Steigende Umsätze, volle Auftragsbücher: Dem Handwerk geht es prächtig. Warum es dennoch an seinen Geschäftsmodellen für die digitale Zukunft werkeln sollte und in welchen Bereichen ein regelrechter Boom zu erwarten ist, erklärt Heidi Barzik vom Kompetenzzentrum Digitales Handwerk im Interview.

Frau Barzik, das Handwerk ist auf Wachstumskurs. Warum sollte es sich überhaupt Gedanken zu seinen digitalen Geschäftsmodellen machen?

Mit der Digitalisierung nimmt der Konkurrenzdruck auf das Handwerk gleich von drei Seiten zu. Erstens kann die Industrie bereits heute individuelle Produkte nach den Wünschen ihrer Kunden herstellen. Zweitens müssen sich Zulieferbetriebe umstellen, damit sie sich nahtlos in die digitalisierten Prozessketten der Konzerne einfügen. Drittens verschärft die Do-it-Yourself-Bewegung (DIY) den Wettbewerb. Statt auf Flohmärkten bieten Laien ihre Arbeit bundesweit über Online-Plattformen an, wie zum Beispiel Textilien über Dawanda. Gleichzeitig eröffnet der digitale Wandel dem Handwerk jedoch Chancen für neue Geschäftsmodelle.

Welche Chancen sind das?

Digitale Technologien erschließen zum Beispiel den Branchen der Elektroinstallation sowie den Betrieben in den Bereichen Sanitär, Heizung und Klima ganz neue Erlösquellen, da sie Fernwartung ermöglichen. Ein weiteres Beispiel für neue Services: Die Kfz-Branche kann künftig die Daten der Autos ihrer Kunden analysieren. Die Werkstätten können den Kunden benachrichtigen, sobald der Kilometerstand bedenklich hoch und starker Materialverschleiß zu befürchten ist. Neben dieser neuen Dienstleistung geben sie ihrem Kunden auch ein besseres Sicherheitsgefühl.

Darüber hinaus sind die Chancen durch Online-Marketing, Präsenz in den Sozialen Medien oder einen Online-Shop enorm: Das Handwerk ist näher an seinen Kunden dran und kann seine Fähigkeiten in der gesamten Republik anbieten. Letzteres ist gerade für kleine und mittlere Betriebe in ländlichen Regionen eine gute Gelegenheit, da sie sich wegen des demographischen Wandels nicht mehr nur auf ihren Kundenstamm vor Ort verlassen können. Einer der größten Trends sind außerdem eigene Plattformen.

Können Sie ein Beispiel für ein Plattform-Geschäftsmodell geben?

Zum Beispiel wandte sich ein Maler- und Lackiererbetrieb an das Kompetenzzentrum Digitales Handwerk. Er wollte seine Farbenmischmaschine besser auslasten, da sie nur morgens im Einsatz war, um die Farbe für die Tagesaufträge herzustellen. Ansonsten stand sie still. Also mussten mehr Misch-Aufträge her! Der Betrieb ließ sich von einer IT-Firma eine Online-Plattform entwickeln, über die Kunden aus der ganzen Republik die Gestaltungswünsche für ihre Wohnung, Möbel usw. eingeben können. Sie tragen auch Parameter wie die Flächenmaße ein. Auf Basis dieser Angaben entwirft der Betrieb dann drei individuelle Farbkonzepte. Im nächsten Schritt erhalten die Kunden eine Box mit den Farbmustern nach Hause geliefert, sodass sie sich für eins entscheiden können. Sie können den Wohlfühltest in den eigenen vier Wänden machen. Dann bekommen sie ihre eigene Wunschfarbe geliefert. Der Malerbetrieb hat sich mit der Plattform die junge DIY-Bewegung in den urbanen Ballungszentren erschlossen. Sie planen, künftig auch Handwerker vor Ort daran anzuschließen – für die Kunden, die Rolle und Pinsel lieber den Profis überlassen. Der Betrieb entwarf ein neues Geschäftsmodell: besserer Service, neue Kunden und ein starkes, ausbaufähiges Netzwerk mit Partnern. Seine Maschine läuft auf Hochtouren.

Ihr Kompetenzzentrum unterstützt das Handwerk. Was braucht es - Ihrer Erfahrung nach - um neue Geschäftsmodelle zu entwickeln?

Wir stellen fest, dass die Handwerksbetriebe sich nur selten bewusst mit ihrem Geschäftsmodell auseinandersetzen. Deshalb wollen wir einen Prozess des Nachdenkens anregen. Denn unsere Erfahrung zeigt auch, dass selbst im kleinsten Handwerksbetrieb gute Ideen für neue, digitale Geschäftsmodelle schlummern. Sie sind gegenüber großen Unternehmen sogar im Vorteil: Mitarbeiter können ihre Ideen direkt dem Chef vorschlagen, der wiederum kann schnell entscheiden und die Umsetzung anstoßen. Insgesamt sind kleine Handwerksbetriebe deutlich flexibler und damit handlungsfähiger. Das Handwerk steckt voll guter Ideen für Geschäftsmodelle für die digitale Zukunft. Es muss nur ihre Umsetzung anpacken.

Dieser Beitrag stammt aus dem Themenheft „Digitale Geschäftsmodelle“.